Johannes von Heinsberg – Bildsprache – Wortsprache

Fotografie und Philosophie – Sehen und Erkennen

documenta 6 – ein exemplarischer Rückblick auf den thematischen Schwerpunkt „Medialisierung“

Die „documenta“ zu durchwandern, live Atmosphäre und Werke von rund 650 Kunstschaffende in einem ganz besonderen Rahmen von Innen- und Außerausstellungen zu erleben, dass gab es für mich erstmalig 1977 mit der documenta 6. Mit zwei Staatsexamina in der Tasche, die Lehrerlaubnis für Kunst darin enthalten, war die Begegnung mit Künstlern direkt vor Ort von besonderer  Erlebnisqualität geprägt.

Eine kunstsoziologische Abschlussexamensarbeit zum Thema „Reale und utopische Kommunikationsformen des Stadtlebens“ war erfolgreich und mit „sehr gut“ bei einem der teilnehmenden Künstler zuvor abgelegt worden. Fotografie und Zeichnung waren kunstpraktische wie dokumentarische Mittel und gestaltende Bestandteile der Arbeit.

Die documenta 6 war von besonderem Interesse für mich, da ihr Schwerpunkt unter dem Stichwort „Medialisierung“ stand. Damit wurde nicht nur die Mediengesellschaft thematisiert, vor allem waren Fotografie und Film (Video) als Kunstform und Gestaltungsmittel in den Fokus der Aufmerksamkeit gestellt worden.

Erstmalig vertraten mit Willi Sitte, Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke  und den Bildhauern Jo Jastram und Fritz Cremer sechs Künstler aus der DDR die Kunst des „Sozialistischen Realismus“ auf der documenta.

Nicht nur im Mittelpunkt der Feuilletons der deutschlandweiten Printmedien standen die Arbeiten „Der vertikale Erdkilometer“ von Walter De Maria, das „Terminal“ von Richard Serra und Die „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ von Joseph Beuys in der Rotunde des Fridericianums. Nachhaltigkeit und Sichtbarkeit reduzierten sich bei Walter De Maria auf eine kleine Plakette im Boden des Friedrichplatzes in Kassel; bei Beuys „Honigpumpe“ nach der temporären Installation in Fotografie und Film.

Dem Happening-Charakter der genannten Kunstaktionen ist Nachhaltigkeit nur in der besonderen Form von Film und Foto gegeben. Ein ästhetischer Dialog wird lediglich für einen kurzen Zeitabschnitt ermöglicht. Danach steht lediglich die zweidimensionale Wahrnehmung zur Verfügung. Eine eher negative Reduzierung auf ein völlig anderes Medium. Ob dies dem Anspruch einer dialektischen Kommunikation genügen kann, mag eine immanente Eigenart der Environments sein. Die Ausweitung der Exponaten-Präsentation zum Environment war dennoch ein Hauptansatz der documenta 6-Konzeption.

Hierzu schreibt denn der Kenner der Documenta-Geschichte und Wissenschaftler beim documenta-archiv, Harald Kimpel, in seinem Buch „documenta – Die Überschau“ zur documenta 6:

Das Selbstdarstellungspotenzial der Beteiligten ließ auch 1977 nicht auf sich warten. Joseph Beuys nutzte bei der Eröffnung die Übertragung des Hessischen Rundfunks die Gelegenheit, seinen Kunstbegriff live zu erläutern ebenso, wie Nam June Paik  (Videokünstler) mit Charlotte Moorman, um ein „musikalischen Fluxus-Ritual“ vorzuführen, wie Kimpel formulierte.

Scheinbar hat wohl jede documenta ihre Skandale und Skandälchen. Zur documenta 6 gehörten die Zerwürfnisse der für die Ausstellungskonzeption der Abteilung Bilder verantwortlichen Klaus Honnef und Evelyn Weiss mit Manfred Schneckenburger, künstlerische Leiter der documenta 6, die ihre Ämter niederlegten. Markus Lüppertz und Georg Baselitz zogen ihre Bilder aus der Ausstellung ebenso zurück, wie Gerhard Richter.  Die Befindlichkeitsskala war bis zum Anschlag auf Rot gestellt wegen der geplanten Umhängeaktion ihrer Bilder und damit nicht akzeptabler „Nachbarschaften“ mit weniger exponierten Künstlern, was für die genannten „Cracks“ und „Kings“ aus ihrer Sicht nicht zumutbar war.

Die Retrospektive zur Geschichte der Fotografie von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis zur aktuellen Gegenwart war ebenso konzeptionell, qualitativ und substantiell gelungen,  wie der Überblick zu den ausgestellten Handzeichnungen der 1960er und 1970er Jahre.

Nicht zuletzt war die Laser-Show von Horst H. Baumann jede Nacht mit dem gespannten Lichtnetz aus roten und grünen Strahlen ein Erinnerungsbaustein der documenta 6, die bis heute traditioneller Bestandteil geblieben ist und damit einen „Laser-Lichtbogen“ schon 1977  in die Zukunft geworfen hat. 

Ergänzung vom 25.06.2022

Was von der documenta 15 bleiben wird, dazu gehört der Skandal um die Exponate des indonesischen Künstlerkollektivs „Taring Padi“ und des darin sichtbaren Antisemitismus. Ein plakativer und wenig gelungener Propaganda Versuch. Decodierbar wird im Verhalten der Gruppe im Vorfeld wie auch in den Versuchen, die „bildnerischer Kuh“ vom Eis zu holen, dass zu viele blinde Flecken auf das gesellschaftliche Umfeld des indonesischen Staates und vor allem eine rassistische Gesinnung sichtbar geworden sind. Eine große Mitverantwortung  liegt bei den Kuratoren und der documenta-Leitung, die in ihrer Beratungsarbeit bei diesem Thema völlig versagt haben.

 Ein wenig Einblick in die bildmäßige Verarbeitung der Inhalte lassen auch die vier Fotos in der FAZ zu, von denen Lars Hartmann (alias bersarin) sagt: 

„Daß ich solche intervenierende Kunst für trivial halte, brauche ich nicht extra dazuzusagen. Zumal solch erweiterter Kunstbegriff am Ende zu einer Entleerung von Kunst überhaupt führt und sich die Sache auf dem Bastel-Bau-und-Heimwerker-Niveau ansiedelt: jeder kann irgendwie irgendwas und kann es eben doch nicht.“ 

Und auch wenn er sich diese vier in der FAZ gezeigten Fotos von Werken ansehe, bleibe er skeptisch! 

Zum Thema documenta 15 auf diesem Blog:

hier und hier!

Ergänzung vom 26.06.2022

Ein Kommentar von Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives, zu den antisemitischen Bildern, die das indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi auf der documenta 15 zeigte.

Die Arolsen Archives sind das internationale Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Die Sammlung mit Hinweisen zu rund 17,5 Millionen Menschen gehört zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Sie beinhaltet Dokumente zu den verschiedenen Opfergruppen des NS-Regimes und ist eine wichtige Wissensquelle für die heutige Gesellschaft.

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