Johannes von Heinsberg – Bildsprache – Wortsprache

Fotografie und Philosophie – Sehen und Erkennen

Documenta als Werkkunstschau zwischen Aversion und Akzeptanz – Anspruch auf Übersicht der Gegenwartskunst noch erfüllbar?

Was ist die alle fünf Jahre stattfindende documenta inhaltlich und formal? Eine Werkkunstschau, somit eine zur Schau gestellte Übersicht, Einsicht oder Ansicht von künstlerischen Werken? Oder doch nur ein 100 Tage dauerndes Spektakel mit jeweils anderen Schwerpunkten, ausgewählt von Kuratoren und künstlerischen Leitungen, deren Subjektivität der Auswahlkriterien immer im Diskurs  mit der Fachwelt und der Kasseler Bevölkerung steht, diese zu verteidigen, durchzusetzen oder zurückzunehmen?

Was 1955 mit der Vergangenheitsbewältigung – gleichzeitig auch das Kernthema der documenta 1 – begann, war verbunden mit dem Ziel, eine Korrektur des „Sündenfalls“ der Nazi-Aktionen vorzunehmen – die die Kunst der Modernen als „entartet“ diffamiert und ideologisch motiviert zu vernichten begonnen hatten. Realisiert wurde dieses Ziel in der ersten documenta mit dem Anspruch, die Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ihren bedeutendsten Werken zu präsentieren. Wie sich auch in den nächsten fast sieben Jahrzehnten bis zu documenta 15 zeigen sollte, klaffte nicht selten eine Lücke zwischen Anspruch und Realisierung.

Auch wenn die Vergangenheitsbewältigung 1955 im Mittelpunkt des Ausstellungskonzeptes stand, war die Grundkonzeption schon ausgerichtet auf den Anspruch, eine Übersicht der Gegenwartskunst zu gewährleisten. Das jedoch impliziert, die Kunstrichtungen in ihren Entwicklungen zu erfassen, die Veränderungen der ästhetischen Wahrnehmungen begrifflich zu benennen und im Diskurs die zeitgeistigen Einflüsse und kunsttheoretischen Ansätze miteinander zu verbinden und terminologisch zu vereinbaren.

In diesem Anspruch ist das oftmalige Scheitern – sichtbar an den Skandalen –  immanent schon enthalten. Die nunmehr fast sieben Jahrzehnte von Innen- und Außenausstellungen ist auch eine Geschichte des öffentlichen Nachdenkens über die Inhalte, Motive und Realisationen von Kunst und Kultur, von Anregung und Aufbruch, von Akzeptanz und Ablehnung.

Vor allem die Außenausstellungen mit ihren Objekten sind sowohl für die Stadtentwicklung Kassels wie auch für die kulturelle und ästhetische Weiterentwicklung der Menschen in und über Kassel hinaus von Meinungen und Reaktionsformen gekennzeichnet.

So definierte Harald Kimpel 1992 – noch in der Funktion als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Kulturamt der Stadt Kassel –  in seinem Buch die jeweiligen Reaktionsstufen von der Aversion über Duldung, Gewöhnung, Gleichgültigkeit bis zur Akzeptanz. Ein nachvollziehbarer Ansatz.

An einem exemplarischen Beispiel – >>Rahmenbau<< von Haus-Rucker-Co (Künstler-Gruppe aus Österreich/ Ein riesiger Rahmen, kombiniert mit einem weiteren kleineren Rahmen ergibt eine Begrenzung für den Blick auf das Fulda Tal. Zuvor muss ein dazu gebauter Steg betreten werden!) – macht Kimpel nachvollziehbar, was nach den 100 Tagen nicht selten mit Außenausstellungsobjekten zu bewerkstelligen ist. Da ist vor allem die Duldung oft eine Frage der Finanzierung der Folgekosten!

Die Künstlergruppe Haus-Rucker-Co beschäftigte sich mit den Problemen des städtischen Lebens und der Stadtgestaltung. Ziel dieser Stahlkonstruktion als provisorische Architektur war, „als Vermittlungsform zwischen Architektur und Skulptur den Umraum zu markieren und durch Nutzung eine bewusste Auseinandersetzung des Nutzer in seiner Rolle als Rezipient mit seiner Umwelt zu provozieren“. (Kimpel)

 Ironisch kommentierte Peter Sager im Zeitmagazin 32/1977, S.5 diesen Anspruch mit:

„Den monumentalen Ausguckbetreten die Schaulustigen in der Erwartung, endlich im Rahmen der Kunst das gelobte Land zu erblicken und nicht nur das Fulda-Tal. Manche strengen sich an wie beim Augenarzt, um die verheißenen >neuen Wahrnehmungsfelder< zu entdecken. Einige behaupten: Nichts zu sehen. Manche freilich kehren von diesem Instrument zur allmählichen Verfertigung der Bilder beim Sehen zurück mit einem medienspezifischen Flackern in den Augen.“

Der aversive und ablehnende Augenblick kommt in diesem Beispiel nach dem Ende der documenta 6 zum Tragen. Ein Sturm im November 1977 hatte Spuren an dem Objekt hinterlassen, weil Teile der Konstruktion hinunterhingen. Dieser Zustand war auch noch nicht im Januar 1978 behoben. Da selbst die Absperrbänder aus Plastik schon teilweise zerstört waren, begann die Diskussion um die Wirkung als „negative Visitenkarte“ für die Künstlergruppe wie für die Stadt Kassel. Die Restauration des schon rostenden Rahmens dauerte bis Herbst 1978 an. Die Finanzierung übernahm ein Finanzinstitut. Eine Schenkung an die Bundesgartenschau –ebenfalls in Kassel – integrierte das Objekt dann in dieses Konzept zu Beginn des Jahres 1979. Ende 1979 stürzte dann der kleine Rahmen ab. Eine erneute Reparatur ließ das Objekt dann am gleichen Platz stehen – und wohl im Rahmen der Wahrnehmungssättigung – das ehemalige „Kunstobjekt“ verdrängen im Bewusstsein der Parkbesucher. Verdrängung ist wohl kaum Akzeptanz, vielleicht noch Gleichgültigkeit, zumindest aber Gewöhnung und Nichtmehr-Wahrnehmung.

Die künstlerischen Leitung der documenta 9 wollte dann nach 15 Jahren dieses Exponat abbauen lassen. Aber selbst am Ende der 9ten documenta stand das Ding immer noch.

Nichts ist so haltbar wie ein Provisorium – selbst als „Provisorische Architektur“!

Ergänzung vom 28.06.2022

Ein Kommentar von Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives, zu den antisemitischen Bildern, die das indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi auf der documenta 15 zeigte.

Die Arolsen Archives sind das internationale Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Die Sammlung mit Hinweisen zu rund 17,5 Millionen Menschen gehört zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Sie beinhaltet Dokumente zu den verschiedenen Opfergruppen des NS-Regimes und ist eine wichtige Wissensquelle für die heutige Gesellschaft.

„People’s Justice“ – ein Banner ethisch und ästhetisch außer Rand und Bann? – documenta Machwerk von Taring Padi verhüllt!

Documenta 15 und das Banner des Anstoßes – Wann sind politische Bildinhalte auch Kunst?

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