„Ich pfeife auf den Text, ich bin imstande, das Antlitz der heutigen Welt mir aus dem hinteren Annoncenteil zusammenzustellen.“ (Karl Kraus, Die Katastrophe der Phrasen)
Meine Großmutter väterlicherseits – Anna Maria – war eine bemerkenswerte Frau – gütig und klug, mutig und besonnen und hatte – dem Zeitgeist geschuldet – 8 Kinder (3 verstorben im Kleinkindalter), 28 Enkel, 39 Urenkel und 46 Ur-Urenkel als sie 1966 mit 89 Jahren verstarb.
Sie war das Kind einer Handwerker- und Beamtenfamilie, im ländlichen Umfeld nahe der Grenze zur niederländischen Provinz Limburg am 07.10.1877 geboren. Sie heiratete grenzüberschreitend einen niederländischen Schreinermeister, meinen – am 01.03.1874 geborenen – Großvater Bernhard Hubert B., am 05.09.1900 zum Beginn des neuen 20. Jahrhunderts. Meine Großeltern väterlicherseits überlebten zwei Weltkriege. Meine Großmutter war belesen, legte die meisten Wege auch im hohen Alter zu Fuß zurück und war begeistert vom TV-Medium. Mein Großvater starb noch vor meiner Geburt.
Im Raum Aachen lebend und somit auch „Kind des Rheinlands“, erlebte meine Großmutter noch den Einfluss von Napoleon auf die Verwaltungs-Neuordnung im Rheinland und dem Rheinbund. Ein Einfluss der ebenso wirksam für die Sprache war. So gehörten zum alltäglichen Sprachgebrauch meiner Großmutter französische Vokabeln wie Parapluie, Plafond de chambre, Trottoir, Le plaisir oder Fourneau. Dass der Widerstand gegen Napoleons Herrschaft sich sprachlich auch widerspiegelte, lässt sich an folgender Erzählung über den Besuch Napoleons in Aachen nachvollziehen:
Die Bevölkerung Aachens wurde von den Stadträten sprachlich vorbereitet, in dem sie beim Vorbeiritt Napoleons „Vive l’empereur“ rufen sollten. Der Aachener Slang/das Plattdeutsch für die Straßenbeleuchtung klang ähnlich. So riefen die Aachener Bürger lauthals „Fies Lamperöhr“ (hässliche Lampenbirne)!
Gestern, am 28.04.2024, war der 150te Geburtstag (28.04.1874) von Karl Kraus, der wie Adenauer (05.01.1876) zur gleichen Altersgruppe wie meine Großmutter gehörte. Zu Adenauer hatte meine Großmutter Anfang der 1950er Jahre brieflich persönlich Kontakt aufgenommen. So schrieb sie „an den Herrn Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer“, warum ihre Witwerente 1951 niedriger sei, als das Existenzminimum für Mittellose. Zudem habe sie Ansprüche an eine Rentenzahlung durch die Niederlande, weil Einzahlungen bis zum Ende des Jahres 1919 in die niederländische Rentenkasse erfolgt seien aufgrund der Arbeitsanstellung ihres Mannes in der Schreinerei in der Provinz Limburg/NL. Der Bundeskanzler möge doch für eine schnellere vertragliche Vereinbarung der BRD mit den Niederlanden drängen.
Zu eventuellen Kontakten mit Karl Kraus (KK) gibt es keine Legende, noch Unterlagen im Familienarchiv. Und dass sie Schriften von Karl Kraus kennen sollte, ist weder erwartbar, noch ansatzweise verbürgt.
Meine Großmutter konnte spannende und lehrreiche Geschichten erzählen, meistens katholisch gefärbt, die so manche Lebenserfahrungen enthielten, vom Ausgang des 19. Jahrhunderts, sowie vom Beginn des neuen 20. Jahrhunderts geprägt waren, als die Kaiserzeit und ihre Untertanen-Knigge – Heinrich Mann lässt grüßen – das Verhalten der Menschen auf dem Dorf und in der Stadt beeinflussten. Zu den Erzählungen gehörten auch welche, die von den jahreszeitlichen Rhythmen und –Wiederholungen der ersten Jahre in der Weimarer Republik bis zu den Bitternissen der Spanischen Grippe-Pandemie und ihren verstorbenen Kindern handelten.
Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte sie wohl nie etwas von Karls Kraus „Die Fackel“ gehört, noch gelesen. Und dennoch konnte ihr niemand einen Bären, noch dessen Haut aufbinden. Während Karl Kraus – vom Schmäh der Wiener Großstadt angeekelt – davon schrieb, „dass es keine Kunst sei, Höhlenbewohner hereinzulegen, die zwar in der Großstadt lebten, aber von Kultur dennoch völlig unbeleckt sein könnten.“
Unzweifelhaft sind KKs Analysen zutreffend, wenn er von den „vegetierenden, sich durch Spaltung fortpflanzenden und die Gewalttätigkeit liebenden Leute“ schreibt, die die fixen Ideen hätten, dass Menschen jüdischer Abstammung „syphilitisch verseucht“ sein müssten, wie der „völkische Beobachter“ geschrieben habe. (Diese Denk – und Handlungsweise des völkischen Unfugs überdauert – tief in der Seele und politischen Dummheit schlummernd – rund einhundert 100 Jahre, um wiedergekäut als AfD- und AJ <Alternative Jugend> – Denken wieder aufzutauchen!)
Meine Großmutter lachte herzlich und mit Augenzwinkern. Ein Lachen, das empathisch die Umstehenden mitnahm und sie fröhlicher werden ließ. Das Lachen Karl Kraus´ ist dagegen von besonderer Natur. Vordergründig ein nächtliches Lachen, tiefgründig nach einem Hauch Verzweiflung duftend.
Kraus beschreibt in seinem Buch „Unsterblicher Witz“, dass ein mit „Kriegssegen“ beschriebenes Machwerk eines deutschen Schreiberlings namens Hermann Bahr aus den Jahren 1914-1916 ihm lange Jahre nach dem ersten Weltkrieg Anfang der 1930er Jahre in die Hände gefallen sei.
„Neulich, nachts, klopfte der Hausnachbar an die Wand meines Arbeitszimmers, ich hörte sein Klopfen, wie er mein Lachen gehört hatte, denn die Mauern dieser neuen Häuser sind dünn und meine Beschäftigung hatte jenen Nachbarn aus dem Schlafe geweckt. Ich lache ja Nacht für Nacht seit sechsundzwanzig Jahren, wenn der Rohstoff der Zeit sich anschickt, in meine Form einzugehen. Aber so habe ich noch nie gelacht wie neulich, da ich, in einem untätigen Augenblick vor meiner Bibliothek gestanden, mein Blick auf ein blutrotes Bändchen fiel mit dem Aufdruck <Kriegssegen>, in dem ein weiteres Kapitel mit <Das deutsche Wesen ist uns erschienen> lautete!“.
Dass Kraus die Hoffnung auf Aufklärung setzte, ist nur zweifelhaft zu unterstellen, da er angesichts der Inhalte des kleinen blutroten Bändchen erwiderte: „Oft habe ich mir gedacht, dass keine größere Tortur für das gesamte Dichter- und Literatenpack der Herrenzimmer-Cliquen und `Untertanen-Gesinnung´ ausgesonnen werden könnte, als wenn man Satz für Satz abdruckte, was es damals so zwischen 1914 und 1916 zusammengeschmiert hat, teils aus benebelter Dummheit, teils aus Spekulation durch die Anpreisung fremden Heldentodes sich den eigenen zu ersparen.“
Im Übrigen eine Beschreibung von Karl Kraus zu Angriffskriege und dahinterstehenden Großmachtfantasien, die eins zu eins passend sind zum Denken und Handeln der heutigen Figuren á la Putin und Konsorten.
Was meine Großmutter betrifft, so hat sie sicherlich nicht die Gedankengänge des Karl Kraus nachvollziehen wollen, noch die Schreibkunst und Formulierungsfertigkeit nachahmen wollen. Was sie stattdessen gemacht hat, das war, mit mir als Schulkind und meinem Vater zusammen Skat zu spielen!