Johannes von Heinsberg – Bildsprache – Wortsprache

Fotografie und Philosophie – Sehen und Erkennen

Der „gesunde Menschenverstand“ – zwischen Intoleranz, Vorurteil und Missbrauch durch ideologische Populisten

Die alte Herrenzimmeridylle – oder die „Tugenden“ der völkisch-populistischen Weltsicht der Nationalkonservativen 

„Der gesunde Menschenverstand ist die Summe aller Vorurteile, die sich bis zum 18. Lebensjahr im Bewusstsein festgesetzt haben“ – Albert Einstein

Der freie Mensch handelt niemals arglistig, sondern stets aufrichtig.“ – Baruch de Spinoza, Ethik
„Der fundamentale Akt der Freiheit ist der des Verzichtes auf Unterjochung eines Unterjochbaren, der Akt des »Seinlassens«.“ – Robert Spaemann, „Handbuch philosophischer Grundbegriffe“
„Der Geist der Wahrheit und der Geist der Freiheit – dies sind die Stützen der Gesellschaft.“ – Henrik Ibsen, Stützen der Gesellschaft, 1877
„Der Glaube an eine größere und bessere Zukunft ist einer der mächtigsten Feinde gegenwärtiger Freiheit.“ – Aldous Huxley, Wissenschaft, Freiheit und Frieden
„Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ – Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag

Während Papst Franziskus 2013 für die Kirche betete, damit sie weiter wachse und gestärkt werde und dabei den „gesunden  Menschenverstand“ in den kritischen Blick nahm (Quelle: Radio Vatikan), machte Hubert Aiwanger 2021 politisch Stimmung im Sinne seines Weltverständnisse. Die SZ (Glosse von Maximilian Gerl) nannte Aiwangers Vorstellung, was „gesunder Menschenverstand“ sei, zwar noch eine Art von Meinungsfreiheit, betitelte Aiwangers Aussagen jedoch als intellektuelle Hohlphrasen! 

Wohlwollend darf der so oft genutzte wie auch missverstandene Begriff „gesunder Menschenverstand“ dann angeführt werden, wenn im Rahmen des Alltagsgeschehen das Verhalten der Menschen für die Gefahrenabwendung nachvollziehbar ist: wer nicht auf  die viel zu dünne Eisdecke eines Gewässers ohne Prüfung tritt, dem würde jeder für diese Entscheidung einen „gesunden Menschenverstand“ bescheinigen. Das gleiche wäre auch denjenigen zu bescheinigen, die niemals eine Autobahn zu Fuß überqueren würden, während der Verkehr unaufhörlich auf allen Spuren an einem vorbeirauscht.

Albert Einstein, der den „gesunden Menschenverstand“ kritisch hinterfragte, wusste von der prägenden Kraft der Sozialisation, die vor allem hinsichtlich gemachter negativer Erfahrungen und fehlender Fertigkeiten und Fähigkeiten für Konfliktlösungen oder Regeln für das Zusammenleben, dass der „gesunde Menschenverstand“ die Summe von Vorurteilen, Hassgefühlen und Gewaltbereitschaft sein könnte. 

Der „gesunde Menschenverstand“ ist somit in der Summe ein Weltbild (ein Verständnis von der Welt), dass durch ideologische und soziologische Inhalte geprägt wird. Der „gesunde Menschenverstand“ kann somit kein allgemeingültiger Maßstab sein, der wegen seiner politisch-ideologischen Prägung und der individuellen Sozialisation sich unterschiedlich verortet und zudem manipulierbar ist.

Kant versuchte eine Differenzierung zwischen dem „gesunden Menschenverstand“ und dem „Gemeinsinn“, also jene breitgefasste Stimmung  und Meinung in einer Gesellschaft, in der die subjektive Beurteilung (Ampel-Regierung mach Politik am Menschen vorbei/ AfD sei die bessere Wahl)  sich als allgemein geteilte Urteile kumulieren und in der Wertung als öffentliche Meinung sich entwickelt haben, ohne dass tatsächlich „die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, das heißt eines Beurteilungsvermögens …, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjectiven Privatbedingungen, welche leicht für objectiv gehalten werden könnten, auf das Urtheil nachtheiligen Einfluß haben würde.“ (Zitat: Kant) 

Der Philosoph Immanuel Kant betonte, dass der so geartete „gesunde Menschenverstand“ unkritisch an festen Vorstellungen hänge und sich Gegenargumenten verweigere; Rene Descartes (Philosoph) vermerkte, dass dem sogenannten „gesunden Menschenverstand“ fehle, was den wirklich menschlichen Verstand ausmache: Skepsis, Analyse, Induktion, Prüfung! 

Zusammenfassender Kommentar zum Thema „gesunder Menschenverstand“

 Auf den „gesunden Menschenverstand“ wird sich immer dann berufen, wenn dem Begriffsanwender die sachlichen Argumente ausgehen. Auch wird dieses Pseudoverstandesmodell angerufen, wenn die populistische Verkürzung der Argumentation twitternd ihre Runde macht und aggressiv gegenüber einer Kritik auftritt, die methodisch Ratio und Logik als Wegweiser der Erkenntnis nutzt. Stammtischniveau wird zur argumentativen Basis des „gesunden Menschenverstandes“ erklärt. Nicht selten ist jene Haltung, die im „gesunden Menschenverstand“ durch alle Poren schimmert, nichts anderes als Intoleranz. Toleranz gegenüber Andersdenkenden wird als krank machend empfunden und verhindere die als alternativlos erklärte Überwachung und Kontrolle. Überhaupt wird Freiheit einer undefinierten Sicherheit geopfert. Wer dagegen eigenständiges Denken fordert und den gesunden Menschenverstand als Schubladendenken entlarvt, wird als Gutmensch beschimpft und in autokraten und didaktorischen Staaten als Landesverräter bezeichnet und seiner Freiheit beraubt.

Der „gesunde Menschenverstand-Anwender“ benötigt scheinbar seine Schubladen. Die können auf- und zugemacht werden. Darin verschwinden lassen will der „gesunde Menschenverstand-Besitzer“ das komplexe Leben, die Mitgestaltung der Gesellschaft und das eigenständige Denken.

Offen ist der „gesunde Menschenverstand“ dagegen für propagandistische Rezepte des vorurteilenden Schubladen-Denkens. Wer diesen so geprägten „gesunden Menschenverstand“ anwendet, erhält das nicht einhaltbare Versprechen, dass dieses geartete Denken und Fühlen das Leben erleichtere. Der „gesunde Menschenverstand“ wird somit zur Belohnung eines gehorsamen Volkes. Seine Ausdrucksfähigkeit entstammt der geschwätzigen Oberflächlichkeit der Regenbogenpresse, ist zudem aber auch die Folge der gezielten Sprachmanipulation durch rechtskonservative und neoliberale Sprachmuster. Aktuell beherrschen die völkisch-rechtsextremistischen Denkmodelle in vielen Landesteilen die Wahlentscheidungen der Menschen. (Thüringen, Sachsen, Brandenburg)

Die Medien und Kommunikations-Unternehmen der rechten Populisten (einschließlich der unseligen Kanäle der sozialen Medien á la TikTok, Twitter/X etc.) machen sich diese zunutze. Das virtuelle und virale Sein bestimmt das Bewusstsein. Meinungsfreiheit, Redefreiheit und Freiheit der Kommunikation sind längst bei Google, Facebook und Twitter/X von den rechtsnationalistisch-rechtsextremistischen Parteien beeinflusst worden. Figuren wie Donald Trump platzieren ihre eigenen Plattformen, um wirre und verlogene Manipulationen in die Welt zu posaunen.

Autokratien (Ungarn, Türkei) und Diktaturen (Russland, Iran, China) filtern, selektieren und unterdrücken neben den Inhalten auch die Verbreitungskanäle. Das machen sie Hand in Hand mit den Geheimdiensten und den Ordnungskräften.  Während letztere Länder ihre staatliche Macht nutzen, um nur bestimmte Freiheiten noch zuzulassen, senkt sich die Waage von Freiheit oder Sicherheit in den Demokratien immer mehr in Richtung Überwachung! (Sicherheit aber für wen? Für das gesamte Volk oder nur für eine bestimmte Klientel?). IT-Unternehmen und Datensammler (Google, Facebook und Twitter/X) nutzen ihre Netzwerke und Infrastruktur als Geschäftsmodell, in dem sie mit den Meinungen, mit der Redefreiheit und den persönlichen Gedanken ihren Profit machen.

Die Datenvereinnahmung macht sie weltweit zum Besitzer und Beeinflusser des Denkens und Fühlens der Menschen. Sie stehlen den Menschen die Gedanken, das Wissen und die Verfügungsgewalt darüber aufgrund eines Systems, das als Vertragsgrundlage lediglich den Zugang zu einer Technologie (Internet) definiert, welche diese Unternehmen nicht erfunden haben.  Flankiert von einer Politik, die solches Geschäftsgebaren mit schwammigen Gesetzen eine Pseudogrundlage gibt.

Dieser unheilvollen Allianz von Politik, Staat und wenigen Unternehmen frönt der „gesunde Menschenverstand-Besitzer“ mit huldvoller Zuneigung und gedankenlosem Gebrauch der eigenen Daten, die sich widerspiegelt in der Äußerung: „Ich habe nichts zu verbergen…“. Ein exemplarischer Beleg für Selbst- und Fremdtäuschung. Als sei diese Äußerung die Absolutionsformel für jegliche Ausbeutung, Überwachung, Meinungsmanipulation und Meinungsunterdrückung durch die Datensammler-Konzerne.

Die Ungleichzeitigkeit des Erkennens und Handelns feiert wieder fröhliche Urstände zugunsten der neoliberalen Weltsicht. Diese Ausformung des „gesunden Menschenverstandes“  ist die Ursache für die schleichende Zerstörung der Demokratie. Wenn Politik und demokratische Staaten die Freiheit der Sicherheit opfern, bekommt am Ende beides nicht!  Wenn die Demokratie verloren geht, bleiben nur noch Autokratien und Diktaturen. 
       

 

 

 

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